Der Wurschtl


«Am 10. Juli 1895, früh 3:15 Uhr, wurde ich geboren. Schon nach einem Jahr wurde ich von jeder Art Musik – nur laute schreckte mich – angezogen. Am liebsten saß ich unter dem Klavier, meiner Mutter zu Füßen, wenn sie spielte. Doch lange blieb es nicht beim Nur-Zuhören, ich wollte unbedingt mittun und begann mit dem Holzfuß meines Wurschtls im Takt auf den Boden zu schlagen. Bald erbettelte ich von meiner Mutter die Erlaubnis, auf den Tasten mitspielen zu dürfen. Mein hohes Kinderstühlchen wurde ans Klavier gerückt, und mit beiden Fäusten «begleitete» ich das Spiel meiner geduldigen Mutter...»


So schreibt Carl Orff es im ersten Band seiner Dokumentation. Der «Wurschtl» ist eine Kasperfigur, die dem Namen nach wohl auf den «Hanswurst» des Wiener Volkstheaters im 17./18. Jahrhunderts zurück geht. Ihren Ursprung haben sowohl der Kasperl als auch der Hanswurst im Handpuppentheater, das zunächst als derbe Unterhaltung eher für Erwachsene als für Kinder auf Jahrmärkten zu finden war. Prügel- und Totschlagszenen auf der Bühne, vor allem der Totschlag an Kaspers Frau, waren ebenso fixer Inhalt im Spielplan wie der Auftritt und das Verprügeln mächtiger Gegenspieler, die Kasperl, immer lustig und gewitzt, stets erfolgreich auf unterschiedlichste Weise bekämpfte, was als deutliche Kritik gegenüber der Obrigkeit zu verstehen war.

Diese durchaus brutalen Szenen spiegelte die Lebensrealität vieler Menschen im 19. Jahrhundert wider, ein Jahrhundert, das von Kriegen und Revolutionen geprägt war. Gleichzeitig machte die derbe Komik, die Findigkeit des Kasperls und sein Charakter als «Stehaufmännchen» den Menschen Mut, sich ebenfalls nicht unterkriegen zu lassen.

Musikalisch verewigt wurde der Wurschtl im gleichnamigen Wienerlied durch den Textdichter Erich Meder und Komponisten Hans Lang. Meder zeichnete in seinem Text ein Traumbild vom Wiederaufbau Wiens aus den Kriegstrümmern des zweiten Weltkriegs. «Er wurschtelt sich durch und er wurschtelt sich raus» heißt es über den Wurschtel im Refrain, was das Lebensgefühl vieler Menschen zu dieser Zeit nicht nur in Wien ausgedrückt haben dürfte.

Dem kleinen Carl Orff waren diese historischen Hintergründe freilich «wurscht». Sein Wurschtl war einfach ein tolles Spielzeug und rhythmisches Behelfsinstrument. Wie die Erinnerung daran ist auch der Wurschtl selbst erhalten geblieben. Heute wird er in der Carl Orff Grund- und Mittelschule in Dießen direkt neben dem Eingang zum Sekretariat und Direktorat ausgestellt. Tagtäglich laufen dort zahlreiche Kinder daran vorbei, vielleicht zukünftige Komponist*innen, Musiker*innen, Puppenspieler*innen, Geschichtenerzähler*innen – wer weiß?


[Text: Kristina Gerhard]

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